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Archiv-Artikel

Kontrollfreak wird Mensch

Vor dem heutigen Schlüsselspiel gegen Schweden: Warum Jürgen Klinsmann ein souveränerer Trainer geworden ist

AUS BERLIN MARKUS VÖLKER

In der Fußballsprache gibt es eine Reihe abgedroschener Weisheiten. Eine davon ist so oft zitiert worden, dass man sie gar nicht mehr ernst nimmt. Sie stammt von Sepp Herberger. „Das nächste Spiel ist immer das schwerste“, lautet dieses Gebot aus dem vergangenen Jahrhundert. Das nächste Spiel für die Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) ist das Spiel gegen Schweden, das WM-Achtelfinale am heutigen Samstag (17 Uhr, ZDF).

Jürgen Klinsmann, 41, der nichts mit alten Fußballweisheiten am Hut hat, aber um den finalen Charakter dieser Partie weiß, sagt: „Ich bin voll davon überzeugt, dass wir ins Viertelfinale einziehen.“ Er verdränge Gedanken an ein frühes Aus, gibt der Bundestrainer in kleiner Runde zu. Dann sagt er einen Satz, der aufhorchen lässt: „Ganz ehrlich: Wir können nicht im Achtelfinale ausscheiden als Fußballdeutschland.“ Gibt es also einen Automatismus, der die deutsche Elf in die nächste Runde hievt? Hat die Fifa ein geheimes Gesetz erlassen, das den WM-Gastgeber zwangsläufig ins Halbfinale bringt? Oder wurzelt in Klinsmann nur ein gnadenloser Glauben an den Erfolg?

„Im Fußball wird man nur am Erfolg oder Misserfolg gemessen, das ist in Ordnung, damit habe ich kein Problem“, sagt Klinsmann und wirkt dabei so entspannt wie in der gesamten letzten Woche. Man hätte erwarten können, dass er, je länger das Turnier dauert, je größer die Erwartungen werden, verkrampft oder unwirsch reagiert oder seine Grinsmann-Show abzieht. Aber das ist nicht der Fall, nicht in der Öffentlichkeit. Klinsmann ist souveräner geworden in der ersten Hälfte der Weltmeisterschaft, die für sein Team so gut gelaufen ist. Nicht nur seine Spieler sind „gewachsen“, wie der Trainer immer sagt, auch er selbst. Die Evolution einer Elf geht weiter.

Der Knackpunkt war wohl das Polen-Spiel in Dortmund, das alle Zutaten eines dramatischen Kicks hatte. Danach saß ein anderer Trainer auf dem Podium der DFB-Pressekonferenz. Der Eindruck, dass Klinsmann ein Verstellungskünster ist, ein notorisch misstrauischer Mensch und Meister der Mimikry, verwischte sich in den vergangenen Tagen. Er wirkt authentischer, ja fast schon gelöst. Aber woran liegt das?

Daran, dass ihm alles aufgeht, inklusive Fitnessplan, Durchmarsch in der Vorrunde und einem Land im Ausnahmezustand? Daran, dass die Profis dufte kollektiviert worden sind und die Kritik verstummt? Die letzten kritischen Stimmen wurden zu Turnierbeginn laut; das ist eine halbe Ewigkeit her. Der britische Guardian hatte den blonden Deutschen als eine „Person ohne jegliches Talent und Qualifikation für den Job“ bezeichnet und ihn einen Phrasendrescher genannt. Der Stern zeichnete das Psychogramm eines herrschsüchtigen Revolutionärs: „Es sind dies Menschen, die ein großer Freiheitsdrang treibt, weil sie fremde Kontrolle schwer ertragen können. Doch wenn sie selbst an der Macht sind, ertragen sie keine Kritiker, aus Angst vor Kontrollverlust.“ Von Angst ist derzeit wenig zu spüren, Klinsmann scheint alles von der Hand zu gehen, auch wenn er den Verlauf der Partie gegen Schweden nicht vorherbestimmen kann.

„Die Mannschaft wird aber hoch aggressiv in dieses Spiel gehen“, verkündet der Masterplaner. „Wir Trainer müssen ständig auf der Hut sein, dass man nicht einen Moment lang zufrieden ist. Dann würde es knallen, sehr schnell.“

Damit sich die Hybris, ein gefährliches Wesen, nicht ins Quartier der Deutschen einschleicht, schlägt Klinsmann betont bescheidene Töne an. Eigentlich bestünde, wie die Süddeutsche Zeitung schreibt, für ihn nun die Gelegenheit, „alle berufsmäßigen Nörgler und Besserwisser für ahnungslos und vogelfrei“ zu erklären, aber diesen Reflex verkneift er sich.

Er hat dazugelernt. In der Vorbereitung auf die WM hatte er einen 4:1-Erfolg gegen die USA noch zu einer umfassenden Medienschelte genutzt; selbstgerecht und nachtragend wirkte er damals – eine fatale Mixtur für den Kontrollfreak Klinmann. Das sollte ihm so schnell nicht wieder passieren, schon gar nicht bei der Weltmeisterschaft.

„Das Achtelfinale ist ein Schlüsselspiel“, sagt Klinsmann jetzt, „es wird darüber entscheiden, ob unsere Arbeit als positiv oder negativ angesehen wird, die gesamte Arbeit der vergangenen zwei Jahre.“ Ein Pfostenschuss, ein strittige Abseitsposition kann Klinsmanns Weg bestimmen. „Das ist so, aber wichtiger ist es doch, dass diese Spielphilosophie fortbesteht. Sie hängt nicht von meinem Kopf ab“, sagt er.

Die Führung des DFB buhlt unvermindert um ihn. Sie würde ihn am liebsten noch vorm Anstoß in München zu einer Vertragsverlängerung nötigen. DFB-Präsident Theo Zwanziger sieht im offensiven Spiel der deutschen Elf einen Entwurf für die Zukunft, egal, ob der Bundestrainer Klinsmann heiße oder nicht: „Nur diese Spielweise hat die nötige Ausstrahlung auf alle Fans und natürlich auch auf die Kinder, die wir mit ihren Eltern für den Fußball begeistern wollen“, sagte Zwanziger in einem Interview.

Der Umgarnte selbst redet nicht über seine Zukunft, noch nicht. Er redet über Schweden und deren Stärken. „Wir müssen ihre Außenspieler sofort angehen. Wenn die erst mal den Ball angenommen haben, dann gute Nacht“, glaubt er.

Aber seine Mannschaft sei stark genug, jeden zu schlagen, „auch Argentinien“. Für ihn, sagt er, sei die WM dann erfolgreich gelaufen, „wenn wir Weltmeister werden“.

Warum sollten sie? „Wir haben diesen Drang in uns drin“, sagt Jürgen Klinsmann. Das ist ein schöner Plan, aber für eine Fußballweisheit vom Schlage eines Sepp Herberger reicht das noch nicht.